Feminist Alpine Club
Das Manifest
Näher, langsamer, flacher!
Wie pisse ich mit dem Klettergurt?
Zu grosse Tritte für die kleinen Schritte.
Ich habe Angst. Ich habe keine Angst.
Diese Sätze und 12 weitere sind auf Plakaten in Ernen und im ganzen Goms zu lesen. Die Signatur FEMINIST ALPINE CLUB verbindet die Schlagwörter Feminismus und Alpinismus und gibt eine Interpretationsrichtung der Sätze vor. Beinahe programmatisch zu verstehen ist der Aufruf Näher, langsamer, flacher! Die drei Adjektive kehren die Devise des «Weiter, schneller, höher!» um, welche den Alpinismus in seiner sportlich organisierten Form seit Mitte des 19. Jahrhunderts prägt.
Einige Plakate wirken zunächst humorvoll, nehmen aber Bezug auf ganz gebirgspraktische Herausforderungen, denen sich Frauen und all jene stellen, die nicht dem normierten, männlichen, trainierten, schlanken und gesunden Körperideal entsprechen. Was, wenn die in den Felsen gehauenen Tritte zu gross sind? Und wie können Frauen in einer Seilschaft mit dem Klettergurt sicher urinieren? Gefühle spielen in den Plakaten ebenso eine Rolle wie der Aufruf zu offener Kommunikation, welche die Risiken am Berg minimieren kann (Die Zungen entknoten.). Symbole werden in Frage gestellt (etwa das Gipfelkreuz) und die Gemeinschaft wird in den Vordergrund gerückt. Ausschlussmechanismen aufgrund von sozialer Klasse oder Herkunft und Herrschaftstechniken, welche die Anfänge des Alpinismus prägten, werden adressiert (etwa im Satz Berge heissen nicht., der sich auf Namensgebungen als Ausdruck von Macht bezieht).
In diesem Zusammenhang lohnt sich ein Blick auf die jüngere historische Forschung, z. B. von Bernhard C. Schär (vgl. Anm. 1). Diese zeigt, dass der Alpinismus bereits in seinen Anfängen mehrstimmiger und mehrschichtiger war, als es sich im kollektiven Gedächtnis niedergeschlagen hat, nämlich als Gipfelsturm wohlhabender Engländer. Die kursierenden Herrschaftsdiskurse haben bis heute verschleiert, dass Frauen schon immer Teil des Phänomens waren und Einheimische die Berge bereits in vormodernen Zeiten bestiegen: Die «Erstbesteigungen» des 19. Jahrhunderts sind eher als Erstveröffentlichungen zu verstehen. Des Weiteren waren Frauen und einheimische Amateur*innen im 17. und 18. Jahrhundert an alpinen Forschungsprojekten von berühmten Naturforschern wie Johann Jakob Scheuchzer beteiligt. Dies änderte jedoch nichts daran, dass die Alpenbewohner*innen in den Metropolen als «homo alpinus» wahlweise barbarisch-primitiv oder überhöht dargestellt wurden.
Heute haben Frauen im Alpinismus eine ganz andere Sichtbarkeit: Schweiz Tourismus veranstaltete 2021 die «100% Women Peak Challenge» und schickte 700 Frauen aus aller Welt auf sämtliche Viertausender der Schweiz, Outdoormarken werben inzwischen mit «Frauenpower». Was nach Feminismus aussieht, entpuppt sich bald als geschicktes Marketing der Outdoorbranche, welche Frauen als Kundschaft entdeckt hat.
Das Plakat-Manifest, welches Josiane Imhasly und Martina-Sofie Wildberger für das Kollektiv FEMINIST ALPINE CLUB (FAC) erdachten, positioniert sich weit weg von solchen Slogans. Die Performance-Künstlerin Martina-Sofie Wildberger rief FAC während ihres ersten Hochtourensommers 2017 ins Leben. Sie postete Fotos von hochalpinen Gipfelbesteigungen mit Pickel, Seil und Steigeisen mit den Hashtags #feministalpineclub und #fac auf Instagram. Ihr Ziel war es, langfristig ein künstlerisches Kollektiv zu bilden, das sich aktivistisch und aus intersektionaler (vgl. Anm. 2) feministischer Perspektive in alpinistische und künstlerische Kontexte einbringt. Das Manifest ist das erste kollektive Projekt; die Idee entstand im Gespräch zwischen den beiden Freundinnen auf dem Weg zu einer Skitour.
Manifeste sind programmatisch, proklamierend, polarisierend, provozierend, polemisch; sie üben Kritik, stellen Forderungen, entwerfen eine neue Welt, oft als Katalog in nummerierter Form. Der beobachtende poetische Duktus und die fragmentarische, hierarchielose Form des FEMINIST ALPINE CLUB-Manifests entsprechen daher nicht der Tradition, nehmen darauf jedoch Bezug. Denn die Plakat-Aktion legt einerseits den Finger auf die vielfältigen Ausschlussmechanismen innerhalb der alpinistischen Praxis und kritisiert damit einen Ist-Zustand. Andererseits wird der Alpinismus schon in seinen Grundzügen anders aufgefasst und es wird skizziert, wie eine integrative alpinistische Kulturpraxis aussehen könnte. Dass die einzelnen Aussprüche nicht streng analytisch daherkommen und unterschiedlich interpretiert werden können, ist beabsichtigt. Zwischen den Plakaten öffnen sich so Räume, die von den Betrachter*innen mit Bedeutungen und Ideen gefüllt werden können. Der proklamierende Manifestcharakter ergibt sich aus dem öffentlichen Kontext, in dem die Plakate präsentiert werden und durch die in Zusammenarbeit mit der Grafikerin Selina Bernet konzipierte Gestaltung.
Das Ziel des FAC ist es, den Alpinismus als Praxis zu etablieren, die, metaphorisch gesprochen, nicht nur die Bergspitzen, sondern auch die Talböden in ihrer Bedeutung würdigt und eine Umdeutung von Hierarchien und Prioritäten ermöglicht. Zugrunde liegt das Erfahrungswissen vom Bergsteigen als Schlüssel zu einer (Selbst-)Ermächtigung, die vom Berg ins Tal getragen werden und im Alltag produktiv gemacht werden kann. Damit bringt der FAC auf seine Weise die Forderung zum Ausdruck, unterdrückte Stimmen zu hören und die gesellschaftliche Definitionsmacht unabhängig von Geschlecht, Alter, Einkommen oder Herkunft zu verteilen.
Anm. 1: Bernhard C. Schär: Der Schweizer Pazifik. Wie lokales Wissen aus den Alpen und aus Übersee zur Wissenschaft wurde (2021), und On the Tropical Origins of the Alps. Science and the Colonial Imagination of Switzerland, 1700–1900, in: Harald Fischer-Tiné und Patricia Purtschert: Colonial Switzerland: Rethinking Colonialism from the Margins (2015).
Anm. 2: Intersektionalität meint, dass sich mehrere Diskriminierungsformen überschneiden können, ein Mensch also gleichzeitig von Rassismus und Sexismus und weiteren Diskriminierungen betroffen sein kann. Der intersektionale Feminismus wurde in den 1990er-Jahren von Schwarzen Frauen geprägt.
Die Performance-Künstlerin Martina-Sofie Wildberger (*1985, lebt und arbeitet in Genf und Zürich) setzt sich mit der Macht von Sprache, alternativen Kommunikationsmöglichkeiten, dem Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit sowie Übersetzung und Übersetzbarkeit auseinander. In Ernen präsentiert sie 2023 zusammen mit ihrer Skitourenfreundin Josiane Imhasly das Manifest des FEMINIST ALPINE CLUB. Diese Aktion hat als Hashtag unter Fotos von Hochtourenerfahrungen der Künstlerin seinen Anfang genommen und thematisiert das «Wenigerwerden» von Frauen mit zunehmender Höhe der Berge.
Josiane Imhasly (*1986) ist freischaffende Kuratorin mit Walliser Wurzeln. Nachdem sie bei der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia gearbeitet hat, widmet sie sich seit Anfang 2022 wieder ihren eigenen Projekten. Sie kuratiert bis Ende 2023 den Miniature-Kunstraum Lemme in Sion und bereits zum vierten Mal das Ausstellungsprojekt Zur frohen Aussicht. Auf einer Skitour mit der Künstlerin Martina-Sofie Wildberger entstand die Idee, für die Ausstellung in Ernen gemeinsam ein Manifest des FEMINIST ALPINE CLUB zu verfassen – so landete sie dieses Jahr selbst auf der Künstlerinnenliste der ZFA. Und hofft, irgendwann einmal das Finsteraarhorn zu besteigen.