Raphael Stucky
Cage no Cage
Ausgangspunkt der Arbeit von Raphael Stucky war die Idee, einen Stadel im Dorf mit einer Rauminstallation zu bespielen. Diese Wirtschaftsgebäude sind in den Dörfern, aber auch im Gelände zu finden. Sie sind Zeugen einer vergangenen bäuerlichen Kultur und stehen heute meist leer. Die Stadel dienten dem Trocknen, Lagern und Dreschen von Getreidegarben. Die eingebauten Unterteilungen im Inneren weisen darauf hin, dass sie von verschiedenen Parteien genutzt wurden. Auch heute gehören die Gebäude verschiedenen Eigentümer*innen, dieses hier insgesamt elf. Zur frohen Aussicht macht den Stadel einem breiten Publikum zugänglich und nutzt ihn im Kontext der Kunst temporär.
So wie der Stadel hier durch die Kunst umgenutzt wird, eignen sich die Spatzen in Raphael Stuckys Video mit dem Titel Cage no Cage Kunststoffgebinde an. Die Kisten sind zu Türmen aufgestapelt und in manchen filmischen Einstellungen wirken sie geradezu wie Architekturen urbaner Hochhauslandschaften. Die Logos der Grossverteiler Coop und Migros oder der Grossbäckerei JOWA sowie die aufgeklebten Strichcodes erzählen von einer durchrationalisierten Vertriebskette von Konsumgütern, in welche die Gebinde nach einem kurzen Zwischenstopp wieder eingegliedert werden. Während dieser kurzen Zeit sind sie Aufenthaltsorte und Spielplätze für die Spatzen. Die Aussparungen zum Tragen der Gebinde werden zu Ein- und Ausgängen in temporäre Vogelhäuser.
Raphael Stucky hat die Spatzen und ihr Treiben über mehrere Wochen hinweg beobachtet und gefilmt. Wie sie hüpfen und rutschen, aus dem Stand in die Luft schiessen, sich kratzen und putzen, lässt sich nun auch hier im Stadel in Ernen verfolgen. Spatzen oder Haussperlinge sind gesellige und intelligente Vögel. Ihr Gesang ist sehr differenziert, lässt individuelle Merkmale und verschiedene Stimmungen erkennen. Als Kulturfolger des Menschen haben sich Spatzen vor über 10’000 Jahren seinen Siedlungen angenähert, weil die Anpassungen der Landschaft für den Ackerbau für sie von Vorteil waren. Weil sie in ländlichen Gebieten hauptsächlich die Samen angebauter Getreidearten fressen, wurden Haussperlinge mitunter auch als Schädlinge wahrgenommen und gejagt. Das früher in diesem Stadel gelagerte Getreide wäre für die Spatzen ein Festmahl gewesen und es ist davon auszugehen, dass sie sich hin und wieder daran bedienten. In der Stadt sind sie Allesfresser, wovon ihr Interesse an den Essensresten in den Plastikkisten zeugt.
Durch die gewohnte Nähe zum Menschen erscheinen uns Spatzen vielleicht banal und alltäglich. Durch das Video können wir diese Vögel mit neuem Blick in Ruhe betrachten. Raphael Stucky stellt fest, dass die Vögel in den Gebinden und die Menschen in den Stadeln sich durch seine Installation in einer ähnlichen räumlichen Anordnung befinden: in gut belüfteten «Kisten», die der Lagerung von Essen dienten, einmal aus Plastik, einmal aus Holz. Wir beobachten die spielenden Vögel – beobachtet vielleicht auch uns jemand dabei, wie wir in den Stadel hineingehen und herauskommen, ja «spielen»?
Die Aufnahmen der Spatzen sind von Sequenzen durchbrochen, welche verschiedene Bäume zeigen. Einmal sehen wir die Spiegelung einer Rosskastanie in einer Pfütze, und wie der Wind die Wasseroberfläche und damit die Äste allmählich zum Zittern bringt; einmal sehen wir eine Gruppe Raben in dicht vernebelten chinesischen Götterbäumen sitzen. Die Spiegelung und der Nebel dienen als Stilmittel einerseits der ästhetischen Überhöhung: Sie schaffen eine mystische Stimmung und haben eine traumartige Qualität. Damit setzen sie einen Kontrapunkt zu den Bildern mit den spielenden Spatzen, die etwas unverstellt Leichtfüssiges und Beschwingtes haben. Andererseits sind die Spiegelung und der Nebel wie Filter, die sich vor das natürliche Habitat der Vögel legen und verdeutlichen, dass dieses zunehmend verschwindet.
Die Videoarbeit nimmt Stimmungen und Themen auf, die man unmittelbar vor der Stadeltür wiederfindet und die auch durch die Ritzen des luftigen Gebäudes ins Innere dringen: das Rufen der Vögel, Nebel und Wind; das Zusammenleben von Menschen und anderen Tieren; der Umgang mit Lebensmitteln zwischen Produktion, Verarbeitung und Verkauf; das Potenzial von Leerständen als Freiräume für neue Perspektiven.
Raphael Stucky (*1989) wuchs in Ernen auf; die Dorfgassen waren sein erweiterter Spielplatz. In den Jugendjahren verbrachte er viel Zeit auf dem Skatepark und im örtlichen Bunker, der ihm als Proberaum diente. Nach dem Gymnasium in Brig studierte er Kunst in Basel und Zürich. In Basel war er in der Offspace-Szene aktiv, als Mitglied im Kollektiv Dr. Kuckucks Labrador und als Mitbegründer der Summe, eines Zusammenschlusses nichtkommerzieller Kunsträume. 2018 gründete er mit Andreas Thierstein die Hammer Band, die auf selbstgebauten und klassischen Musikinstrumenten improvisiert.