Stefanie Salzmann
Herein
In einer Stallscheune am Dorfrand von Mühlebach schwebt eine textile Skulptur im Raum. Sie scheint eine schützende Funktion zu haben, einen Unterschlupf anzudeuten. Mit seinen Dimensionen von ca. 160 × 340 cm ist das Textilstück zu gross für einen Umhang und zu klein für ein Zelt. Die Form, die es bildet, befindet sich also in einem Dazwischen. In einem luftigen Regal sind Pflanzen zum Trocknen ausgelegt. Die Installation, deren Titel Herein auf eine Einladung und einen Raum, das Übertreten einer Schwelle von draussen nach drinnen verweist, verwebt Tiere, Pflanzen und Menschen miteinander.
Stefanie Salzmann hat die Skulptur aus der Wolle der Schwarznasenschafe ihrer Familie hergestellt. In ihrer künstlerischen Praxis erforscht sie die Materialität der Wolle und verarbeitet sie zu Skulpturen, Wandteppichen, Objekten und Installationen. Im Raum hängt noch immer der Geruch von Tieren, die im unteren Teil des Gebäudes gehalten wurden. Er vermischt sich mit dem Textilobjekt, welches ein Bindeglied in eine Vergangenheit wird, in der das Gebäude zentral für die bäuerliche Kultur war. Diese wird heute nur noch als Nebengewerbe gepflegt, wie von Salzmanns Eltern in Ried-Brig.
So grosse gefilzte Textilobjekte in verschiedenen Naturfarben herzustellen, ist ein körperlicher Prozess, zumal Stefanie Salzmann alles von Hand verarbeitet, teilweise mit Unterstützung von Assistent*innen. Die Wolle wird durch die Nässe beim Färben und Filzen sehr schwer. Und die körperliche Arbeit beginnt schon vorher; beim Scheren der Schafe, beim Anpflanzen der Färbepflanzen und beim Ernten. Die Künstlerin stellt fest, dass das handwerkliche Arbeiten mit Naturmaterialien sie mit ihrer natürlichen Umwelt verbindet – etwas, das vielen Menschen in unserer postkapitalistischen Gesellschaft fehlt.
Stefanie Salzmann hat im Rahmen der Ausstellung Zur frohen Aussicht zusammen mit Dorfbewohner*innen im «Grosse Garte» einen Färbepflanzgarten angelegt. In die Techniken des Naturfärbens hat sie sich im Rahmen einer Künstlerinnenresidenz in Mexiko vertieft. Dieses Wissen gibt sie im Rahmen eines öffentlichen Workshops am 12. August 2023 weiter. Dorfbewohner*innen und Feriengäste sind dazu eingeladen, zum Färben geeignete Pflanzen zu sammeln und im Trockengestell zwischenzulagern, um sie dann zu Tinten und Textilfarben zu verarbeiten. Bestens eignet sich etwa Tagetes (auch Studentenblume, Samtblume, türkische Nelke oder Totenblume). Während der Ausstellungsdauer soll eine Bibliothek von Färbepflanzen aus der Region entstehen, die Bezug auf die ehemalige Nutzung der Scheune als Heulager nimmt.
Viele Färbepflanzen werden auch für medizinische Zwecke verwendet. Dies hat Salzmann dazu inspiriert, die Scheune als Rückzugsort einer Heilerin zu imaginieren. Vielleicht ist diese Heilerin eine prototypische Figur der emanzipierten Frau, der die Künstlerin hier einen Raum bieten möchte, auch in Bezug auf ihre eigene Biografie. Selbst in einem Oberwalliser Dorf aufgewachsen, wurde die Freiheit, die der dörfliche Lebensraum dem Kind bot, in der Jugend zu einer Beengung: Alle sind im Dorf den Blicken der Nachbar*innen ausgesetzt, doch junge Frauen stehen unter noch strengerer Beobachtung als ihre männlichen Altersgenossen. Leerstehende Scheunen und Stadel waren für die jungen Frauen Rückzugs- und Schutzräume, wo sie sich ausserhalb der Normen des Dorfes ausprobieren und ausdrücken konnten. Die ins Textil integrierten Spikes sind ein Hinweis auf dieses Experimentieren und das Widerständige, das sich in Jugendkulturen nicht zuletzt über Kleidung und die Gestaltung des eigenen Körpers ausdrückt.
Eine weitere Inspiration für Herein war Marie Métrailler, die im Unterwalliser Dorf Evolène seit 1938 bis in die 1970er-Jahre eine Weberei betrieb und in Kriegszeiten bis zu 250 Frauen beschäftigte. Métrailler war eine Feministin, die mit einem kritischen Geist gegenüber der katholischen Religion für die Unabhängigkeit von Frauen einstand. Sie wurde zur Anlaufstelle für Lebensfragen und war als Heilerin bekannt; Tourist*innen und Modefachleute aus Paris kamen, um ihre Stoffe zu kaufen. In der Figur Métraillers wird auch die tatsächliche Vernetzung der so oft als abgeschottet und rückständig rezipierten Berggebiete augenfällig; die Dörfer waren durchaus am Puls der Zeit und auch verbunden mit den Metropolen.
Vielleicht spielen die Zitate von Tierprints, die in der Skulptur zu erkennen sind, auf dieses Spannungsfeld zwischen lokaler Kultur und globaler Vernetzung, auf transkulturelle Konstanten und globale Machtdynamiken an. Stefanie Salzmann interessiert sich für die Modegeschichte des Tierprints, die sich zwischen Glamour (geprägt durch Christian Dior), Trash und Grenzüberschreitung (Frauenbewegung, Hippies, Punkrock) bewegt. Die mit den Tiermustern assoziierten Eigenschaften wie «Wildheit» oder «Freiheit» haben dabei auch mit Vorstellungen von «Exotik» zu tun. Die Wurzeln dieses Bezugs der Mode auf die Tierwelt liegen kulturgeschichtlich weit zurück: Die europäische Aristokratie trug seltene und «exotische» Tierfelle als Macht- und Statussymbole. Und schon seit der Eiszeit wurde Tierfell getragen, um zu überleben, aber auch aus spirituellen Gründen: Der Glaube, dass die Eigenschaften von Tieren auf die Träger*innen ihrer Haut übergehen, bestand in vielen Kulturen. Für die Künstlerin ist das eine wichtige Frage: Mit welchen Eigenschaften von Tieren und Pflanzen schmücken wir uns? Und vielleicht auch: Mit welchen schützen wir uns?
In Ried-Brig aufgewachsen, ist Stefanie Salzmann (*1986) früh weggezogen, um Mode-Design in Basel und Paris zu studieren. Nach einigen Jahren in der Modeindustrie zog es sie zurück ins Wallis, um mit der Wolle ihrer Familie zu arbeiten. Seither wendet sich Stefanie Salzmann ihrer freien künstlerischen Praxis in der Bildenden Kunst zu, untersucht die Materialität der Wolle und experimentiert mit natürlichen Farbstoffen. Ihre zwei Lebensmittelpunkte in Ried-Brig und Brüssel ermöglichen es ihr, die Perspektive zwischen dem Ländlichen und Urbanen zu wechseln und eine Brücke zwischen den beiden Räumen zu schlagen.